Gegen die These konkurrierender Erinnerungspolitiken (insbesondere in
den USA zwischen der Erinnerung an die Shoa und der Erinnerung an die
Geschichte der Sklaverei) hat der Historiker Michael Rothberg
vorgeschlagen, Erinnerung multidirektional zu verstehen: in anhaltenden
dialogischen Auseinandersetzungen und Interaktionen verschiedener
historischer Erinnerungs- und Gedenkkulturen entsteht multidirektionale
Erinnerung „durch Anleihen, Aneignungen, Gegenüberstellungen und
Wiederholungen anderer Geschichten und anderer Erinnerungstraditionen“
(Rothberg 2020; Rothberg 2009:3).
Das Seminar widmet sich ausgehend von Rothbergs Konzept den
Erinnerungspolitiken in der Migrationsgesellschaft, in der sich unter
postkolonialen, die postnationalsozialistischen und die
postmigrantischen Bedingungen verschiedene Gewaltgeschichten überlagern.
Erinnerung unterliegt Aushandlungsprozessen und ist Ergebnis
erinnerungspolitischer Kämpfe, wie sich an den vielen Debatten und um
die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Erinnerung an die Shoah
ablesen lässt. Gleichzeitig sind gerade in den letzten Jahren zahlreiche
künstlerische und aktivistische Arbeiten, Projekte und Interventionen
entstanden, in denen multidirektionales Erinnern praktisch wird. Das
Seminar rückt diese in den Mittelpunkt, um das Potential des Konzepts
des „multidirektionalen Erinnerns“ für eine Erinnerungskultur
auszuloten.
Literatur:
Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonisation, Stanford 2009
Michael Rothberg: Das Gespenst des Vergleichs, in: Latitude, Mai 2020, https://www.goethe.de/prj/lat/de/dis/21864662.html
Zum Einlesen:
Astrid Messerschmidt: Postkoloniale Erinnerungsprozesse in einer
postnazionalsozialistischen Gesellschaft – vom Umgang mit Rassismus und
Antisemitismus. In: Peripherie , Nr. 109/110, 28 (2008), S. 42-60.